Montag, 29. September 2014

Die Frau aus dem Regenbogen - DONE

Es war einmal ein Mann, der in seiner Jugend etwas sehr Seltsames erlebt hatte. Niemals hatte er darüber gesprochen, niemandem davon erzählt. Doch immer hatte er dieses Erlebnis in sich getragen und keinen einzigen Augenblick davon vergessen.

An einem lauen Sommerabend saß dieser Mann mit seinem Sohn unter einem Baum, um sich ein wenig auszuruhen. Und an diesem Abend begann er zu erzählen, gerade als die Sonne sich verabschiedete, und die Nacht sanft und warm den Alten und seinen Sohn in ihre Arme nahm: 'Unter diesem Baum, mein Junge, da bin ich vor vielen, vielen Jahren auch gesessen, als mir damals etwas Unerklärliches und Geheimnisvolles geschah.'

Sein Sohn blickte ihn erstaunt an. Nie war sein Vater ein großer Erzähler gewesen. Doch nun fuhr er fort: 'Es war auch so ein warmer Sommertag wie heute. Ich war noch jung, etwa in deinem alter. Ich suchte ein wenig Ruhe und ging spazieren, als mich plötzlich ein Regen überraschte, einer von diesen kurzen, aber heftigen Sommerregen. Unter diesem Baum fand ich damals Schutz. Und nach dem Regen blieb ich noch ein wenig sitzen, um mich von der Sonne wieder wärmen und trocknen zu lassen.' Er atmete tief durch, schwieg eine Weile und blickte seinem Sohn forschend in die Augen. Dieser erwiderte den Blick seines Vaters offen und aufmerksam und wartete.

'Ja', sprach der Alte weiter, 'dann geschah es. Ich weiß nicht ob ich eingeschlafen war oder was auch immer geschehen sein mag, jedenfalls schreckte ich plötzlich auf. Ein unglaublich schöner Regenbogen überspannte den ganzen Himmel. Doch seltsam: das Ende des Regenbogens schien nur einige Meter von mir entfernt zu sein. Ich war verwirrt und wusste nicht, wie mir geschah. Da trat plötzlich aus diesem Rausch der Farben eine Frau auf mich zu.' Sein Sohn runzelte ein wenig die Stirn. Der Alte nahm dies wohl wahr, redete aber einfach weiter: 'ich weiß, dass das verrückt klingt. Aber glaub mir: Genauso ist es damals geschehen.'

Noch einmal holte er tief Luft. 'Diese Frau war ein Traum. Sie war alles, was sich ein Mann bei einer Frau nur wünschen kann, ich meine nicht nur Äußerlichkeiten. Obwohl ich sie ja nie zuvor gesehen hatte, wusste ich das alles sofort. Wirklich seltsam...'Er schüttelte nachdenklich den Kopf. 'Nun ja, wie dem auch sei', nahm er den Faden wieder auf, 'diese Frau aus dem Regenbogen setzte sich neben mich und sprach mit mir. Um ehrlich zu sein: Ich sprach mit ihr. Sie selbst sagte eigentlich nur drei Sätze. Aber ich erzählte und erzählte und konnte gar nicht aufhören. Vielleicht war es die Aufregung, vielleicht meine Unsicherheit, wer weiß? Ich redete von mir und meinen Träumen, von meinen Sorgen und Nöten, von allem möglichen. Später schämte ich mich, weil ich wie ein Wasserfall geredet hatte. Doch ich glaube, sie hat es verstanden.Wohl niemals in meinem Leben habe ich so viel und so lange geredet wie damals.'

Sein Sohn blickte ihn liebevoll an, fühlte sich seinem Vater auf einmal sehr nahe und hätte ihn am liebsten in die Arme genommen. Doch er tat es nicht, sondern fragte: 'Diese drei Sätze, Vater, erinnerst du dich noch an sie?' 'Aber sicher', nickte sein Vater, 'ich habe sie nie vergessen. Es waren eigenartige Sätze. Einer lautete: 'Es liegt in deiner Hand, du bestimmst dein Leben, auch wenn es nicht immer so scheint.' Nachdenklich blickte er vor sich hin und schwieg. 'Und die anderen Sätze?' fragte sein Sohn weiter. 'Ach ja!' Der Alte schien aus seinem Traum zu erwachen, und es war, als müsse er erst wieder zu sich finden. Doch dann sprach er weiter 'der zweite Satz war: Versuche die Menschen zu lieben, auch wenn sie es dir nicht leicht machen werden. Ich glaube, dass ich diesen Satz einigermaßen verstanden habe. Immer habe ich im Grunde versucht, auch so zu leben, obwohl ich heute fürchte, dass ich viel zu selten geliebt habe.' Wieder lächelte sein Sohn, und dieses mal war er es, der eine Weile nachdenklich vor sich hinblickte.'Der dritte Satz', fuhr sein Vater fort, 'war der seltsamste. Ich habe ihn wohl nie ganz begriffen: Laß es so geschehen, wie es ist, auch wenn du manchmal lieber gegen vieles kämpfen möchtest.'

Er schwieg, und es schien, als habe er die Erzählung beendet. Gedankenverloren folgte der Blick seines Sohnes einem welken Blatt, daß im leichten Sommerwind zur Erde schwebte. Schließlich sagte er, 'Es lohnt sich, über alle drei Sätze nachzudenken und zu reden, Vater. Mir scheint , du hast sie meistens nur mit dir herumgetragen und nur wenig davon verstanden, wenn ich dich und dein Leben so betrachte.'Sein Vater blickte ihm aufmerksam ins Gesicht. 'Da magst du vielleicht recht haben', sagte er traurig und fuhr fort: 'Weißt du, je älter ich wurde, desto mehr habe ich das auch gefühlt. Doch denke ich, dass nicht jeder dieser drei Sätze so stimmen muss. Man kann darüber auch streiten - obwohl ich es manchmal, tief in mir, anders fühle. Und heute ist es für vieles zu spät, mein Sohn.'

'Ich weiß nicht, Vater', sagte der junge Mann. 'Oft ist es nur eine Ausrede, wenn jemand so etwas sagt. Aber wie ging denn die Geschichte mit dieser Frau weiter?' Jetzt war es der Vater, der seinen Sohn liebevoll anblickte und am liebsten in die Arme genommen hätte. Auch er erzählte stattdessen weiter: 'Es war damals der spät geworden über meinem vielen Gerede und bereits dunkel, als ich auf einmal nichts mehr zu reden wusste. Da setzte sich diese Frau zu mir und nahm mich in die Arme.' Der Alte lächelte und seufzte tief. 'Und dann war sie sehr zärtlich zu mir. Ich glaube, sie brachte mir die Liebe bei, wie man das zu nennen pflegt. Nie wieder habe ich solch eine Frau erlebt.'

Du meinst körperliche Liebe?' wollte sein Sohn wissen. Der Vater nickte: 'Ja und nein. Es war mehr als körperliche Liebe, da war so vieles.' Wieder schwieg er eine ganze Weile, bevor er stockend weitererzählte: 'Es ist nicht einfach in Worte zu fassen, was da geschah. Weißt du, es war, als würde ich plötzlich losfliegen, mitten in den Sternenhimmel über uns. Der Mond hob mich empor und nahm mich in sich auf. Und die Sonne gab mir Kraft und zündete etwas in mir an, obwohl sie nicht einmal zu sehen war. Und die Sterne tanzten um mich, und ich flog mitten ins All, ins Herz aller Dinge. Und ich fühlte und erlebte, was ich einfach nicht beschreiben kann. Die Zeit stand still, und dann raste sie wieder an mir vorbei. Mein Körper schien auseinander zu brechen, und doch fühlte ich mich so fest und sicher in mir wie nie zuvor. Manchmal dachte ich, vor lauter Leidenschaft irre zu werden, und doch war es in mir unheimlich still und friedlich.' Er schüttelte den Kopf. 'Ach, es ist einfach unbeschreiblich gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes, was diese Frau damals mit mir gemacht hat.'

Vater und Sohn blickten sich lange an. Dann sagte der Sohn: 'Es war ja nicht nur die Frau, die etwas gemacht hat. Du hast ja auch dazu beigetragen, oder nicht?' Sie saßen eine ganze Zeit lang schweigend beieinander. Es war still unter dem Baum und in der Nacht, und ein klarer, wunderschöner Sternenhimmel tat sich über ihnen auf. Die beiden Männer hingen ihren Gedanken nach, jeder seinen und doch den gleichen. Irgendwann räusperte sich der Sohn und fragt: 'Und was geschah dann noch weiter, Vater?' Sein Vater hob den Kopf, und wieder schien es, als wäre er eben erst aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Schließlich antwortete er: 'Eigentlich nichts Besonderes. Irgendwann in der Nacht bin ich damals zu mir gekommen. Es hat lange gedauert, bis ich mich und meinen Verstand wieder beisammen hatte. Die Frau war verschwunden und ich habe sie bis heute niemals wieder gesehen.'Auf einmal schien er dem Weinen nahe. 'Weißt du, mein Junge, ich habe sie immer gesucht. Hier unter diesem Baum, in jedem Regenbogen und in jeder Frau. Aber ich habe sie nie gefunden. Keine Frau war so wie sie, keine hat mir so zugehört, mir solche Sätze gesagt, mich in solche Leidenschaft versetzt. Und glaub` mir, ich habe viele Frauen gekannt. Auch deine Mutter, die ich wirklich sehr gern habe, auch sie ist nicht so wie diese Frau.' Seine Stimme wurde leiser. 'Die Frau aus dem Regenbogen...', lachte er vor sich hin, 'ich weiß nicht einmal ihren Namen. Und nie habe ich so richtig begriffen, was sie mir sagen wollte. Vielleicht habe ich deshalb mein ganzes Leben lang im Grund nur nach ihr gesucht.'

Sein Sohn blickte ihn voller Wärme an. 'Ich weiß nicht, Vater', sagte er. 'Vielleicht?' Er dachte nach, rang nach Worten und fuhr schließlich fort: 'Ich glaube, sie hat dir etwas Großes geschenkt: Liebe aus Leib und Seele.' Er atmete tief die kühler werdende Nachtluft ein. 'Ja, und du hast dieses Geschenk nicht weitergegeben, sondern dein leben lang immer mehr davon gesucht, überall und jederzeit hast du noch mehr von dieser Liebe gesucht.'Er erhob sich und streckte sich ausgiebig. 'Wie wohl jeder Mensch', sagte er dann weiter, 'wir suchen alle nach der Liebe, in jeder Frau und in jedem Mann, auch ich. Und dabei vergessen wir das Wichtigste.'

Der Vater blickte zu seinem Sohn auf, Tränen in den Augen, fassungslos, und murmelte: 'Du hast sie verstanden.' Und noch einmal: 'Ja, du hast sie verstanden.' Und dann sagte er, noch immer unter dem Baum sitzend und zu seinem Sohn aufblickend: 'Ich glaube, jetzt fange auch ich an zu verstehen. Komm, mein Junge, hilf deinem Vater nun auch noch beim aufstehen.' Der junge Mann half seinem Vater, und schweigend machten sich die beiden auf den Heimweg in dieser kühler werdenden Sommernacht. Auf einmal raschelten in dem Baum die Blätter, und der Mond schien durch die Äste genau dorthin, wo die beiden Männer gesessen waren.Weder Vater noch Sohn sprachen noch einmal über die Frau aus dem Regenbogen - aber etwas war zwischen ihnen geschehen, was unauslöschlich war. Beide hatten sich verändert. Auch die Frau des alten Mannes spürte das. Doch sie erfuhr niemals von dem Erlebnis des alten Mannes und von dem Gespräch zwischen Vater und Sohn.

Als der Sommer zu Neige ging, machte der Alte, wie so oft, einen Spaziergang am Nachmittag. Es war warm und roch nach Herbst, und etwas Eigenartiges lag in der Luft. Später regnete es kurz und heftig, und danach verzauberte ein unheimlich schöner Regenbogen den Himmel. Der junge Mann zeigte ihn seiner Mutter und dacht insgeheim an seinen Vater. Still lächelte er vor sich hin und verstand auf einmal noch mehr von der Suche seines Vaters. Wie viele Farben so fragte er sich in diesem seltsamen Augenblick, wie viele Farben mag wohl die Sehnsucht haben?

Mitten in der Nacht wurde er von seiner Mutter geweckt. Voller Sorge bat sie ihn , nach dem Vater zu suchen, weil er von seinem Spaziergang nicht heimgekehrt war. Sofort machte er sich auf den Weg. Aus irgendeinem Grunde wusste er, wo er seinen Vater finden würde. Und da war er dann auch. Still und friedlich lag er unter seinem Baum, ein glückliches Lächeln in seinem Gesicht. Der Sohn begriff sofort. Er nahm den alten Mann in seine Arme und drückte ihn liebevoll an sich. Und während er bitterlich weinend um seinen toten Vater in den Armen unter diesem Baum saß, rauschte es wieder in den Blättern, und der Mond warf ein mildes Licht auf die beiden. Da huschte ein Lächeln über das tränenüberströmte Gesicht des jungen Mannes, und er flüsterte seinem Vater ins Ohr: 'Du weißt es nun, nicht wahr? Sie hat es dir gesagt.' Er drückte ihn ein letztes Mal an sich und war sicher, dass sein Vater die Frau aus dem Regenbogen noch einmal gesehen hatte.

Heinz Körner





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